Meine letzte Predigt

Abdankungsfeier Konstanz
02.November 2024

MEINE LIEBE FAMILIE
LIEBE GESCHWISTER
LIEBE FREUNDE!

Die Bibel sagt in Hebr. 11,4 von Abel, der ja nun wirklich lange tot ist: „...und durch den Glauben redet er noch, obwohl er gestorben ist.“. Das wünsche ich mir, ja, es ist mein letzter Wunsch, noch einmal zu Euch zu sprechen. Wir hören jetzt ein Wort Gottes, das mein ganz persönliches Lebenszeugnis geworden ist. Das begriff ich, als ich die Psalmvertonung von Felix Mendelssohn- Bartholdy hörte, die mich bis ins Innerste erschüttert hat:

„Eine Unterweisung der Söhne Korach, vorzusingen. 2 Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. 3 Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue? 4 Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott? 5 Daran will ich denken und ausschütten mein Herz bei mir selbst: wie ich einherzog in großer Schar, mit ihnen zu wallen zum Hause Gottes mit Frohlocken und Danken in der Schar derer, die da feiern. 6 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist. 7 Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, / darum gedenke ich an dich aus dem Land am Jordan und Hermon, vom Berge Misar. 8 Deine Fluten rauschen daher, / und eine Tiefe ruft die andere; alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich. 9 Am Tage sendet der HERR seine Güte, und des Nachts singe ich ihm und bete zu dem Gott meines Lebens. 10 Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich drängt? 11 Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, / wenn mich meine Feinde schmähen und täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott? 12 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“ Psalm 42

Als ich geboren wurde, gaben mir meine Eltern den Namen Johannes, zu Deutsch: „Gott ist gnädig“. Das ist zunächst eine menschlich ganz unverständliche Entscheidung. Meine Eltern hatten Gott vertraut, nach der Geburt eines ersten, kranken Kindes ein zweites, gesundes Kind zu empfangen. Sie hatten gewagt und sie hatten verloren. Das trieb das Wasser in die Augen meiner tapferen Mutter, das leitete Wasser auf die Mühlen der Glaubenskritiker, das Haus des Gottvertrauens erbebte, es zeigten sich Risse im Fundament des eigenen Glaubens und Gottesbildes: „Wo ist nun dein Gott?“ Doch in geradezu prophetischer Klarheit sprachen meine Eltern: „Er soll Johannes heißen“. Wer wissen will, was biblischer Glaube ist, der hat hier ein rechtes Beispiel gefunden. In diesem Glauben sprach meine Mutter: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“

Johannes - Gott ist gnädig - das wurde tatsächlich das Programm meines Lebens.

Nein, Gottes Gnade zeigte sich nicht in Heilung, in übernatürlichen Wundern und langem Leben. Karriere? Fehlanzeige. Während meine Freunde und Kollegen Fachärzte wurden, sich niederließen, Familien gründeten und prachtvolle Kinder in die Welt setzten, krebste ich als ewiger Altassistent in einer Rehaklinik herum. Wie gern hätte ich meine Eltern zu Oma und Opa gemacht. Meine überaus anmutige Frau verhieß da großes Potential. Doch es sollte nicht sein. Besonders die letzten, leidvollen Wochen und Monate haben viele von Euch erschüttert und lassen Gottes Gnade in einem sehr eigentümlichen Licht erscheinen. Was ist das für ein Gott, dessen Gnadenerweise so gar nicht gnädig erscheinen? Der Jemanden mit 49 Jahren aus dem Leben reißt, nachdem alles so hoffnungsvoll schien? Warum darf ich trotzdem von Gottes Gnade reden? Mache ich etwa aus der Not eine Tugend, frei nach Eugen Roth: „Ein Mensch erhofft sich, fromm und still, dass er einst das kriegt, was er will. Bis er dann doch dem Wahn erliegt, und schliesslich das will, was er kriegt“?

Doch: Gott war gnädig. Stefan Zweig hat in seinem Buch „Sternstunden der Menschheit“ geschrieben, dass es nicht auf die Länge des Lebens ankommt, sondern auf die wenigen Sternstunden, in denen sich das Leben verdichtet und kondensiert und Entscheidungen von großer Tragweite getroffen werden. Zunächst habt Ihr alle die letzten Jahre vor Augen. Vor meiner ersten Transplantation vor etwas mehr als 11 Jahren habe ich Gott einmal in einer dunklen, verzweifelten, atemlosen Nacht um 24 Stunden ohne Atemnot angefleht. Er schenkte mir fast fünfeinhalb Jahre, das sind ungefähr 1950 Tage mal 24 Stunden, bis zum Auftreten der ersten Symptome der Abstoßung. Das Gebläse hat ordentlich gearbeitet und der Organist konnte sämtliche Register ziehen. „Atemlos durch die Nacht“- das war vorbei. Stattdessen erklang das „große Halleluja“! Wenn das nicht Gnade ist! In diesen fünf Jahren komprimierte sich mein Leben. Alles war möglich, viel hat geklappt, wenig waren die Tage der Sorge. Ich durfte mit Vielen von Euch 2015 „ein Fest auf das Leben“ im Restaurant „Seelig“ in Konstanz feiern. Selig, so fühlte ich mich. Begnadet, eben Johannes - Gott ist gnädig. Doch dann änderte sich mein Leben im August 2018. Der Absturz war unerwartet, schnell und schmerzhaft. Ein Absturz in den Tod. Aber: es war ein Absturz in Richtung Himmel. Ein Sturz in die Hand Gottes. ER war vor vielen Jahren mein Seilpartner geworden, ein ungewöhnlicher Partner zwar, aber der, der mir die Sicherheit versprach, mich bis über den Tod hinaus zu sichern - da, wo wir über die Kante der Existenz ins Nichts zu stürzen meinen. Deshalb behaupte ich, daß diese ungewöhnliche Seilschaft doch die größte Gnade in meinem Leben gewesen ist. Wie habe ich meinen Seilpartner gefunden? Es war Gott, der die Initiative ergriff. Er schenkte mir einen unstillbaren Durst nach ihm, dem Schöpfer, der Quelle des Lebens. „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“. Es ist Gottes Gnade, wenn ein Mensch das Kreisen um sich selbst unterbricht, wenn er die Sehnsucht nach der Ewigkeit in sich nicht betäubt. Wenn er im Durst nach Leben anfängt, zu Dem zu schreien, der sagt: „wer von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“, Joh. 4,16. Es brauchte einige Zeit in meinem Leben, bis der Durst so groß war, daß ich bereit war, die selbstgegrabenen Brunnen aufzugeben. Dafür haben viele Menschen lange gebetet. Alles in Butter also?

Johannes - ist Gott gnädig?

Die Gnade wird angefochten. Wer den Psalm aufmerksam verfolgt hat, hat gemerkt, dass der Sänger von einer merkwürdigen Unruhe singt. Er hat seine Mitte in Gott gefunden. Trotzdem ist er hin und her geworfen zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Er beschreibt Tränen und schlaflose Nächte, seine Seele ist betrübt. Ursache der Misere ist die Widersprüchlichkeit zwischen dem Wissen um Gottes Gnade und Liebe und den leidvollen Wegen, die der Psalmist gehen muss. „Hat Gott mich vergessen?“ - diese notvolle Frage kennt nur der, der an Gott hängt. Zur inneren Not gehört auch der Zweifel: „Wo ist nun Dein Gott?“. Wie oft habe ich Malina gefragt: „Sag mir, hat Gott mich noch lieb? Hat er mich vergessen?“ Wir haben das alles zu Genüge durchexerziert. „Deine Fluten rauschen daher, und eine Tiefe ruft die andere; alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich.“ - Erstickungsgefühle. Hustenattacken, hoffnungsvolle Therapien, die nicht anschlagen. Wenn man nach Luft schnappt. Auf dem Trockenen schwimmt.

Doch anstatt mich von Gott abzuwenden, wurde meine Sehnsucht nach ihm immer größer. „Am Tage sendet der HERR seine Güte, und des Nachts singe ich ihm und bete zu dem Gott meines Lebens.“ Er wurde der Gott meines Lebens. Ohne ihn wollte und konnte ich nicht leben. Ich habe erst später verstanden, dass eben das Glaube genannt wird. Glaube ist nicht das Zustimmen zu Dogmen sondern das Festhalten an Jemand, dem man vertraut. Glaube bewegt sich nicht im Elfenbeinturm. Er ist den Stürmen des Lebens ausgesetzt. Man kann nicht von Altnau nach Überlingen segeln, wenn man im Hafen bleibt. Und erst im Sturm zeigt sich, was Dein Glaube wert ist. Aber hinaus aus dem sicheren Hafen, das müssen wir. Weil wir als Christen ein Ziel haben. Die wunderbare Passage aus Brahms’ Deutschem Requiem wurde zu meinem persönlichen Kompass: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die Zukünftige suchen wir.“, Hebr. 13,14. Wir haben hier keine bleibende Stadt, kein Recht auf irdische Ewigkeit, keinen Anspruch auf ein stationäres Refugium. Unsere Häuser und Wohnungen sind improvisierte Übergangslösungen. Auf den Wellen meines Lebens durfte ich Psalm 42 als großen Trost inmitten des Sturms erleben: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“ Wenn Ihr Euch fragt, was ich gerade mache, habt Ihr hier die Antwort: ich beuge meine Knie vor meinem Schöpfer und Gott und danke ihm, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist. Ich danke ihm für viel Gutes in meinem Leben. Danke ihm für liebevolle Eltern, die keine Mühen gescheut haben, um den Krank- heitsverlauf ihrer Kinder zu verlangsamen. Danke ihm für eine Familie, deren alljährliche Feste alles waren, nur nicht langweilig. Danke für treue Freunde. Danke für schöne Reisen. Danke für prächtige Skiurlaube, Kletter- und Bergtouren. Danke für unzählige Stunden in Feld und Wiesen mit dem Fernglas, den gefiederten Freunden nachspürend. Danke für einen wunderbaren Beruf, in dem ich doch insgesamt fast 20 Jahre tätig sein konnte und in denen der Chef „empathia“ und die Kollegen „patientia“ gezeigt haben. Danke, dass ich das Lob Gottes in Händels „Messias“, Bachs „Weihnachtsoratorium“, der „H-Moll-Messe“ und den Bach’schen „Passionen“ mit dem Konstanzer Bachchor singen durfte. Danke für Gespräche, die die Tiefen der Existenz ausgelotet haben. Danke für meine Gemeinde in Konstanz. Hier floss mein Herzblut, hier habe ich wahrhaft Freude empfunden. Es war mir eine Ehre, mit Euch zusammen unserem Gott gedient zu haben.

Und zum Schluss ist es ein offenes Geheimnis, für was ich in meinem Leben am meisten dankbar gewesen bin. Immer, wenn ich mich gefragt habe, ob Gott mich denn noch liebe, habe ich in das Angesicht meiner Frau geschaut und da wusste ich es. Sie „hat jeden Raum mit Sonne geflutet, hat jeden Verdruss ins Gegenteil verkehrt“. Sie hielt mich fest in den Stürmen des Lebens, ihr unerschütterliches Gottvertrauen gab mir Mut in den dunkelsten Stunden. An ihr habe ich gesehen, was Liebe vermag. Es war die schönste Zeit meines Lebens. Corrie ten Boom sagte einmal: „Wenn Gott uns auf steinige Wege schickt, gibt er uns auch die richtigen Schuhe“.

Und nun: Finis coronat opus (*). Johannes heißt: „Gott ist gnädig“ - Mama, Papa, ihr habt alles richtig gemacht. Euer Glaube war nicht umsonst. Ich bin Euch dankbar, dass ich ein JOHANNES, ein Gott-Begnadeter sein durfte. Über meinem Leben steht über allem Leid: Soli Deo gloria!

Im Film „Willkommen bei den Sch‘tis“ heißt es: „Man weint immer zweimal. Einmal, wenn man kommt und einmal, wenn man geht.“ So geht es uns Menschen: Tränen fließen bei unserer Geburt, Tränen fließen bei unserem Abschied. „Ich möchte nicht sagen: „Weinet nicht, denn nicht alle Tränen sind von Übel.“ Das ist wohl der berühmteste Abschiedssatz der Filmgeschichte (Herr der Ringe). Für einige von uns ist der Abschied nur vorüber- gehend. Christen sehen sich immer zweimal. Geschwister, das Beste liegt noch vor Euch. Ich kann es bereits sehen. Ich bin angekommen. Ich bin daheim. „Sie haben ihr Ziel erreicht!“, das Navigationssystem hat seinen Dienst getan, aus dem Glauben ist Schauen geworden.

Für Diejenigen unter Euch, die Christus noch nicht zum Zentrum ihres Lebens gemacht haben, besteht Hoffnung, das nachzuholen. So lange noch Leben im Menschen ist, besteht immer Hoffnung. Es ist mein Wunsch, dass Ihr Euch aufmacht und DAS LEBEN findet.

Euer Johannes
Heimgegangen am Donnerstag, 17. Oktober 2024, 13.33 Uhr, im LMU Klinikum Grosshadern, München

(*) Das Ende krönt das Werk

Diese Predigt wurde von Malina Bunzel am 17.10.2024 redigiert. Sie hat lediglich Daten und Rechtschreibfehler korrigiert, sowie das Layout überarbeitet.